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Familien gelingend begleiten

Von: Melike Çınar

 

Zu den Fachkräften, die Bildungswege von Kindern eng begleiten und mit Familien kooperieren, gehören neben denen in der frühkindlichen Bildung auch die Fachkräfte in der Ganztagsbetreuung an Schulen. Die Kinder essen mit ihnen gemeinsam, erholen sich vom Vormittag, reflektieren im Unterricht Gelerntes und erledigen, je nach Konzeption, auch ihre Hausaufgaben mit ihnen. Sie sind Ansprechpersonen für offene Fragen schulischer, sozialer und familiärer Angelegenheiten. Neigungen, Talente und Ressourcen der Kinder werden in der ergänzenden Förderung und Betreuung im Ganztag ganz besonders sichtbar.

Die große Chance des Ganztags ist es, fernab der Leistungsorientierung des Schulsystems mit den Kindern und ihren Familien in Beziehung zu treten und unabdingbare sozial-emotionale Entwicklungen zu begleiten und zu fördern.

Trotz vielerorts herausfordernder Rahmenbedingungen, fehlender gemeinsamer Qualitätsstandards und zum Teil sehr hoher Binnendifferenzierung der Familien, soll es gelingen, Kinder von Anfang an in der ergänzenden Betreuung individuell und ressourcenorientiert zu begleiten und die Chancengerechtigkeit in der Schule zu erhöhen. Mit dem Rechtsanspruch ab 2025 müssen flächendeckend vergleichbare Bedingungen und Standards guter Betreuung geschaffen worden sein, auch und vor allem im Bereich der Kooperation mit Familien.

Familie ist der erste Lernort der Kinder, sie ist ihr Lebensmittelpunkt und vor allem jüngere Kinder empfinden sich stets als Einheit mit ihrer Familie. Das eint alle Kinder: Sie haben eine Familie. Diese kann natürlich höchst unterschiedlich aussehen: Wir haben neben der tradierten Kernfamilie einen Anteil an Kindern, die in Patchwork-Konstellationen unterschiedlichster Couleur leben, die in Pflegeverhältnissen aufwachsen, bei Großeltern oder anderen Verwandten, die in Regenbogenfamilien, Einelternfamilien oder noch anderen Familien leben, lernen, lieben und geliebt werden. Und so hat auch jede Familie eine ganz eigene Familienkultur und erklärt sich ihren Alltag auf verschiedene Weise: Wie viel Medienkonsum gibt es? Was wird gegessen? Und wann? Welche Feste werden gefeiert? Wie viel Geld steht zur Verfügung? Gibt es Einschränkungen eines Familienmitglieds? Welche Erfahrungen machen Familien mit Institutionen? Mit Rassismus? Wie viel gemeinsame Zeit steht zur Verfügung? Und so weiter. Es gibt viele Fragen und Details, die die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten von Kindern ausmachen. All diesen Reichtum an Vielfalt finden wir in den Einrichtungen der Kindertagesbetreuung, in der Schule und dann natürlich auch in der ergänzenden Betreuung außerhalb des Schulunterrichts. Die Differenzierungslinien unserer Gesellschaft prägen in gleicher Weise das Miteinander in Schule und Ganztag: Sprache, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Behinderung, sexuelle Identität, sozio-kultureller Hintergrund, Habitus, Einkommenshöhe und weitere.

 

Das Programm Elternchance

Um durch eine ermutigende Kooperation mit Familien die Chancengerechtigkeit aller Kinder auf ihrem Bildungsweg zu erhöhen, bildet das BMFSFJ seit 2011 und bis Ende 2021 bundesweit Fachkräfte in der Elternbegleitung (https://www.elternchance.de/) weiter. Das Programm, das seit 2015 ESF-gefördert ist, hat über 10.000 Fachkräfte und um ein Vielfaches mehr Kinder und deren Familien in den Einrichtungen erreicht. Umgesetzt werden die Qualifizierungen von einem Konsortium der bundesweit tätigen Verbände der Familienbildung in einer einmaligen Zusammenarbeit auf Bundesebene (https://www.konsortium-elternchance.de/).

Die Schwerpunkte der Qualifizierung liegen in drei inhaltlichen Modulen auf Bildung im Kindesalter, Partnerschaftlichkeit und Wohlergehen und der dialogischen Begleitung von Familien. Sozialraumorientierung, Vernetzung und individuelles Fallverstehen sind dabei wesentlich. Es geht auch darum, ungleiche Chancen und ihre strukturellen Bedingungen erkennen und abbauen zu lernen und auf diese Weise Familien ermutigen und motivieren zu können. Eigene Anteile und Erfahrungen zu reflektieren wird erlernt und geübt. Ganz im Sinne von Janusz Korczak kann ich nicht wissen, wie mir fremde Personen, mir fremde Kinder in einer mir fremden Situation am besten begleitet werden sollten – ich kann es nur mit ihnen gemeinsam herausfinden, wenn ich sie nicht als Projektionsfläche für meine eigenen Bilder und Vorstellungen missbrauchen will.  

Viele Fachkräfte betonen immer wieder, dass es eine engere Vernetzung aller Beteiligten und die vertrauensvolle Kooperation mit den Familien ist, die den Weg der Kinder im Bildungssystem entscheidend ebnen kann.

Die Erfahrungen aus dem Bundesprogramm, die sich in der Mehrzahl auf Kita, Familienzentrum oder Familienbildungsstätte beziehen, können hoffentlich auch Eingang in den Bereich der Ganztagsbetreuung finden und eine gegenseitige Bereicherung darstellen.

Am Ende der Qualifizierung belegen die Projektberichte, die die Teilnehmenden verfassen, in beeindruckender Weise, wie Praxis sich wandelt, wenn die Haltung sich ändert und ein gewisser Geist durch die Einrichtung weht. Der Geist der Wertschätzung, des Dialogs, der absoluten Ressourcenorientierung nämlich, welcher von hoch motivierten und kompetenten Fachkräften nach der Qualifizierung noch vehementer eingebracht wird.

 

Zwei Beispiele aus dem Programm

Max, 9 Jahre alt, besucht die vierte Klasse einer Grundschule. Es ist das Schuljahr der Empfehlung für die weiterführende Schule, er ist ein fleißiger Schüler, manchmal scheint er jedoch verschlossen und zeigt Leistungsabfälle. Er lebt allein mit seiner Mutter. Viel mehr ist den Fachkräften über ihn nicht bekannt. Eine Lehrkraft wendet sich an die Sozialpädagogin der Schule mit der Bitte, einen Termin mit Max‘ Mutter zu vereinbaren. Sie sei unerreichbar für die Lehrkraft und würde per Mitteilungsheft angebotene Termine nicht wahrnehmen. Die Lehrkraft sorgt sich um Max und unterstellt der Mutter, sie sei an dessen Schulerfolg nicht interessiert. Das Fernbleiben der Mutter wertet sie als Desinteresse. In der Nachmittagsbetreuung hört eine Erzieherin (Elternbegleiterin) zufällig mit, wie Max einem anderen Kind berichtet, dass die Mutter große Sorgen hätte, da der Hund der Familie nicht allein bleiben kann und bellt, wenn es doch geschieht und der Vermieter bereits mit Konsequenzen gedroht hat. Das wiederum berichtet sie der Sozialpädagogin und gemeinsam fassen sie einen Plan: In das Mitteilungsheft wird eine Einladung für einen gemeinsamen Spaziergang mit Hund im nahe gelegenen Wald geschrieben. Die Uhrzeit wird so gelegt, dass die Mutter Max im Anschluss abholen kann. Die Mutter schreibt noch am Nachmittag eine Bestätigung ins Heft und der Spaziergang, der eigentlich ein Elterngespräch ist, findet wie geplant statt. Die Mutter äußert ihre Erleichterung darüber, den Hund mitnehmen zu können und es entsteht eine neue Grundlage für die Zusammenarbeit.

Im zweiten Beispiel geht es um eine aus dem europäischen Ausland zugezogene Familie, die einer massiv benachteiligten Minderheit angehört. Die vier Kinder besuchen Kita und Schule und sind unauffällig, allerdings würde die Fachkraft aus dem Familienzentrum, das die Kinder häufig besuchen, den Kindern gerne Sprachförderungsangebote vermitteln. Die Eltern zeigen sich in durch die Kinder gedolmetschten Tür-und-Angel-Gesprächen zwar offen und interessiert, unternehmen aber keine Schritte in diese Richtung. Auch an den offenen Angeboten für Eltern nehmen sie nicht teil, sie interagieren kaum mit anderen Familien. An den gemeinsamen Aktivitäten nimmt meist die älteste Tochter mit den Geschwistern teil. Die Ideen im Team dazu reichen von Ratlosigkeit bis hin zu Abwertung der Eltern. Eine kreative Idee hat niemand. Eines Tages berichtet die mittlere Tochter nebenbei davon, dass die Mutter Handtaschen näht. Die Leitung des Familienzentrums (Elternbegleiterin) hört dies und hat die Idee, die Mutter einen Workshop geben zu lassen. Im Familienzentrum gibt es ohnehin eine Nähwerkstatt, die selten genutzt wird. Es gelingt ihr, durch eine Sprachmittlerin einen wertschätzenden und ermutigenden Brief an die Mutter zu verfassen, so dass nicht die Kinder übersetzen müssen. Zum vorgeschlagenen Planungstermin erscheint die Mutter und die Sprachmittlerin erleichtert die Kommunikation. Es stellt sich heraus, dass die Familie erheblich verletzende Diskriminierungserfahrungen gemacht hat und auch eine Begegnung mit dem Jugendamt hatte, die auf einen denunzierenden Anruf zurückzuführen ist, der jeder Grundlage entbehrte. Es fällt der Mutter schwer, sich im Gewirr der Institutionen und Angebote zurechtzufinden und sie traut sich die Leitung eines Workshops nicht zu. Nach einem Folgetermin und der Zusicherung von Unterstützung willigt sie ein. Der Leitung ist nun klar, dass es nicht um die Wahrnehmung von Förderangeboten allein geht, sondern eine ganz andere Art und Intensität der Vertrauensbildung nötig ist, um der Mutter Selbstwertgefühl und den Kindern einen guten Zugang zu Einrichtungen der Bildung zu vermitteln. Der Taschenworkshop wird ein Erfolg und die Mutter kommt zum ersten Mal in einen Kontakt mit anderen Eltern auf Augenhöhe. Die Nachfrage nach den Sprachförderangeboten stellt die Leitung des Familienzentrums zunächst zurück, um die wichtige Beziehungsebene zunächst pflegen zu können. Durch die entstehende Vernetzung der Familie im Ort gewinnt sie wie nebenbei an Orientierung und macht vermehrt Erfahrungen von Selbstwirksamkeit.

 

Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Familien

Die Freuden und Belastungen des Alltags, der für jede Familie so verschieden ist, sind entscheidend für unsere Möglichkeit, zu lernen, Neues zu erproben, uns zu entwickeln. Jedes Kind hat ein Recht darauf, sich und seine Familie in der Einrichtung wertschätzend und ressourcenorientiert repräsentiert zu sehen. Wer sich willkommen und zugehörig fühlt, kann unbeschwert teilhaben und Prozesse der gemeinsamen Gestaltung unseres Zusammenlebens positiv erleben. Wer aber das Gefühl hat, die eigene Familie ist in der Einrichtung nicht gern gesehen, wird abgestempelt und abgewertet, kann nicht einfach drauf los lernen. Es entstehen Loyalitätskonflikte, Verletzungen und erhebliche Belastungen.

Der seit langem erkannte Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit mit Familien kann Eingang in das System Schule finden, wenn die Fachkräfte des Ganztags gute Rahmenbedingungen, Wertschätzung und Werkzeuge vorfinden, Familien gelingend zu begleiten und zu ermutigen. Die gewonnenen Schätze dürfen nicht im Bereich der frühen Bildung verbleiben – gute Bildung und Begleitung von Anfang an und bis zum Übergang in den Beruf! muss es viel eher heißen. Soll dies bundesweit im Ganztag gelingen, muss Politik sich auch selbst ernstnehmen und die Rahmenbedingungen schaffen – räumlich, inhaltlich, monetär und zeitlich.

Damit es alle Familien schaffen können, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen!

 

 

Zur Autorin: Autorin: Melike Çınar, Paritätisches Bildungswerk, Bundesverband, Sprecherin des Konsortiums Elternchance

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